Inga Rienau

Die gestundete Zeit

Mein neues Projekt kreist um unsere begrenzte Zeit, um Vergänglichkeit, Unsicherheit, Vergehen und Neubeginn. Zu dem eindrucksvollen Gedicht von Ingeborg Bachmann, das dem Projekt seinen Namen gibt, werde ich ein Triptychon malen. Dazu Acrylbilder, Fotografien und Aquarelle zu ausgewählter Lyrik weiterer Dichterinnen und Dichter. Work in progress!

Die gestundete Zeit

Ingeborg Bachmann

 

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

 

„Die Anrufung des Großen Bären“ zu dem gleichnamigen Gedicht von Ingeborg Bachmann. Acryl auf LW, 1×1 m.

Das Sternbild im Bild links oben ist bekannt als „Großer Wagen“ oder eben auch „Großer Bär“, der noch ein paar mehr Sterne umfasst.
Den Polarbären bzw. Eisbären habe ich wegen der Nähe des Sternbilds zum Polarstern gewählt – aber auch wegen der Bedrohung seines arktischen Lebensraumes.

Anrufung des Großen Bären

Ingeborg Bachmann

Großer Bär, komm herab zottige Nacht,
Wolkenpelztier mit den alten Augen,
Sternenaugen,
durch das Dickicht brechen schimmernd
deine Pfoten mit den Krallen,
Sternenkrallen,
wachsam halten wir die Herden,
doch gebannt von dir, und mißtrauen
deinen müden Flanken und den scharfen
halbentblößten Zähnen,
alter Bär.

Ein Zapfen: eure Welt.
Ihr: die Schuppen dran.
Ich treib sie roll sie
von den Tannen im Anfang
zu den Tannen am Ende,
schnaub sie an, prüf sie im Maul
und pack zu mit den Tatzen.

Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!
Zahlt in den Klingelbeutel und gebt
dem blinden Mann ein gutes Wort,
daß er den Bären an der Leine hält.
Und würzt die Lämmer gut.

s‘ könnt sein, daß dieser Bär
sich losreißt, nicht mehr droht
und alle Zapfen jagt, die von den Tannen
gefallen sind, den großen, geflügelten,
die aus dem Paradiese stürzten.